Heim nach Oranien

Leicht verfault der Blumenkohl

Deutschland" wird holländisch. Zusammen mit "Eilermark", ihrer spinnenden Nachbarin, ist die Baumwollfabrik von Glanerbrug nahe dem westfälischen Gronau als "örtliche Grenzanomalie" den Niederlanden zugesprochen worden. Beide wurden einst von holländischem Kapital eingerichtet, um den Ausfuhrzoll nach Deutschland zu umgehen.

 

Grenzen sind immer irgendwie nicht normal. Zwischen Deutschland und den Niederlanden bestehen sie seit dem Wiener Kongreß 1815. Jetzt sollen die Grenzsteine an etlichen Stellen ausgebuddelt und weiter ostwärts eingepflanzt werden. Kleine Korrekturen, allein zugunsten Hollands. Und neue Anomalien entstehen.

 

Bei Wielen wird nicht korrigiert, obwohl vier Meter hinter dem Hofe des Bürgermeisters Welleweert der verwitterte Grenzstein steht und Welleweerts Wiesen drüben im königlichen Gebiet von holländischen Kühen abgefuttert werden. Welleweert als Deutscher darf seine von den Vätern ererbten 33 ha jenseits der Grenze nicht bebauen.

 

Chancen für Wielen. Doch hat Wielen im äußersten Westzipfel des Kreises Grafschaft Bentheim noch allerlei Chancen, als Landeshauptstadt den Haag zu bekommen. Die "Beseitigung örtlicher Anomalien" ist nur eine kleine Nummer im großen Attraktionsprogramm der niederländischen Friedensforderungen.

 

Von 161 geforderten Ortschaften hat das neun km lange Wielen prozentual die meisten Holländer: 70 Prozent von 718 Einwohnern. Auf den größten Höfen sitzen Holländer.

 

Sie kamen vor Jahrzehnten aus ihrem engen Vaterland zu deutschen Bauern als Gesinde. Die gaben ihren Knechten Häuerstellen auf unfruchtbarem Land zur Kultivierung. So sickerte die holländische Minderheit im deutschen Grenzgebiet ein.

 

Johann Jonkhans wanderte vor 50 Jahren über die Grenze nach Wielen zu. Heute hat er einen sauberen Hof mit 200 Morgen und einen Stall voller Milchkühe. In seiner behaglichen Stube bullert ein holländischer Kanonenofen mit umlaufender Fußbank. Wo früher der offene Herd rauchte, leuchten Delfter Kacheln am Kamin. Schwere dunkle Schränke im flämischen Stil bergen den Reichtum. Auf den Simsen balancieren Vasen mit Pfauenfedern darin.

 

Seinen Gästen bietet Jonkhans London-Opinion-Zigaretten an: "Wenn ich ehrlich sein soll, ich fühle mich so ganz wohl. Unter den Deutschen hatte ich nichts zu leiden. Was bekümmert, sind die Grenzschwierigkeiten. Es ist mir eigentlich egal, ob ich zu Deutschland, ob ich zu Holland gehöre, sowie die Grenze wieder offen ist."

 

23 km zum Friseur. Drüben wohnen die Verwandten und Freunde. Der Weg nach Hardenberg zur Kirche und zum Haare-Schneiden war so nahe. Heute patrouillieren Zöllner auf dem Weg, und die Wielener müssen 23 km zu Fuß zum Friseur wandern.

 

Wenn Jonkhans sich eindeutig entscheiden müßte, wäre ihm der Paß in der Muttersprache allerdings doch lieber: "Schließlich bin ich doch Holländer".

 

Manche jungen Holländer möchten gar nicht gern oranisch werden. Denn dann blüht zwei Jahre Militärdienst mit der Ausbildung in Java oder Sumatra.

 

Nur einige Steinwürfe von Jonkhans entfernt sitzen Bertram und Brunhilde Springorum auf Heidegut Wielen. Das hat der Vater Springorum, bekannt wegen enger Beziehungen zum Ruhrkapital, 1921 kultiviert. 420 ha Heide. Der Sohn, Typ des Landwirts, der in ostdeutschen Zeitungen als "Junker" beschossen wird, Jagdliebhaber und Hundefreund, sieht schwarz bei einem Anschluß an Holland.

 

Die Landwirte würden der Konkurrenz erliegen müssen, da drüben die Bodenkultur höher entwickelt ist. Springorums Ansicht, zwischen zwei Schlucken aus dem Vollmilchglas: "Das Beste hoffen, das Schlechteste fürchten. Aber auf jeden Fall: Wir haben nichts zu lachen!"

 

Doch es geht nicht um Wielen mit seiner gemischten Bevölkerung. Die Königlich Niederländische Regierung wußte, warum sie es am 5. November 1946 für "angebracht" hielt, "ihren Standpunkt in Anbetracht der zukünftigen niederländischdeutschen Grenzziehung zu "formulieren". Die deutsche Besetzung und ihre verheerenden Folgen seien die Gründe für die Forderungen Eine "angemessene Entschädigung in Form von Zuteilungen deutschen Gebietes" sei "in Anbetracht der davon betroffenen Gebiete nicht praktisch".

 

Und dann der Memorandum-Satz zum Rotstift-Unterstreichen: "Das niederländische Volk lehnt Annektionen traditionsgemäß ab". Holland will nicht annektieren. Holland spricht von "gewissen Grenzberichtungen". Holland denkt an Oel, Steinkohle, Ton, Torf, an Siedlungsland für seine Ueberzähligen, an Emsmündung und Versandung des Hafens Emden, an Umleitung des Ruhr-Schiffsverkehrs von Ems auf Niederrhein mit Rotterdam als Umschlagplatz.

 

Ohne die Landfremden. Insgesamt 1750 qkm Deutschland als schmalen Streifen von Aachen bis Borkum (siehe Karte), ein Bodenschätze-gesegnetes Gebiet so groß wie das Saarland, will das Haus Oranien aus der deutschen Konkursmasse erben. Inklusive der 120000 Ur-Einwohner. Ohne die "Landfremden", die nach dem Angriffstag der deutschen Truppen auf die Niederlande (10. Mai 1940) zuzogen. Also müßten 40000 Flüchtlinge ihr Bündel schnüren und sich eine neue Not-Heimat suchen.

 

Vielleicht dürften die Herrnhuter in den Neu Gnadenfelder Baracken bleiben (vgl. Spiegel Nr. 52/1948), denn mehrere Stimmen im Lande der Windmühlen und Tulpenzwiebeln sprachen schon von der holländisch-christlichen Nächstenliebe.

 

Dieselben Stimmen wurden böse, als Widerspruch aus Bentheim erklang. Dorthin hatte Dr. Rudolf Beckmann, Textilfabrikant in Nordhorn und Landrat des Kreises Grafschaft Bentheim, die Sprecher der betroffenen 18 Grenzkreise zusammengetrommelt.

 

Der Bentheimer Grenzland-Ausschuß antwortete den mittlerweile drei Memoranden aus dem Holzschuh-Land mit einem Gutachten. Das reiste bis in die Schreibtischladen der Londoner Konferenz.

 

Das alliierte "Ja" zu Hollands Drang nach dem Osten würde einen Milliarden-Verlust für Kleindeutschland bedeuten. Zwei Milliarden DM sind allein die Oelreserven im Emsland wert. Unter den Bohrtürmen von Emlichheim, Georgsdorf, Lingen-Dalum und Adorf liegen 75 Prozent der deutschen Erdölvorräte = 15 Millionen t. (Die Felder bei Nienhagen in Hannover und Heide/Holstein sind bald ausgepumpt). Das holländische Memorandum berichtet nur wenige harmlose Zeilen über die ölige Geschichte.

 

Die neue Grenze soll vor allem verkürzen (Den Haag). Aber bei Dahlum kriegt die geplante Linie plötzlich einen komischen Buckel ostwärts, justament um das Oelfeld herum.

 

Von der reichsten Oelhoffnung Westeuropas zwischen Ems und Ijssel-Meer liegen schon heute ca. 80 Prozent unter niederländischer Erde.

 

Im April 1942 bohrte man bei Dalum tief. 800 Meter unter der Erde stieß man auf ölhaltigen Sand. Pionier-Bohrungen (je mindestens 250000 Mark Kosten) ließen bald den unterirdischen Reichtum erkennen. 1948 wurde über ein Drittel des deutschen Oels im Emsland gefördert.

 

Auch im Holländischen waren es deutsche Ingenieure, die in der Besetzungszeit in den fetten Weiden herumbohrten. Vorher wußte man dort nichts von seinem öligen Glück.

 

Kühe unter Bohrtürmen. Das rastlos-langsame Nicken der Kreiselpumpen ist der Rhythmus der Landschaft von Emlichheim. Diesel-Loks puffen auf den Wegen. Muntere Kühe weiden unter den Bohrtürmen.

 

Die stecken wie Ausrufungszeichen in den moorigen Wiesen, kilometerlang quer über das Flüßchen Aa hinweg. An der Aa läuft die stacheldraht-rostige "Reichsgrenze". Hüben und drüben Bohrtürme.

 

Auch an ihren Kühen soll man sie erkennen: braun-weiße holländische und schwarz-weiße deutsche. Die kümmern sich nicht um die weißen Tafeln "SPERRGEBIET", hinter denen unmittelbar geschossen wird. Werden soll.

 

50 Meter breit ist das Niemandsland hier nur. 50 Meter von der Grenze darf gebohrt werden. Beiderseitig. Das steht im Privatvertrag, den die deutsche Ausbeute-Firma Wintershall-AG. März 1948 mit der Nederlandse Aardolie Maatschappij, einer Shell-Tochter, abschloß. Damit sich die Bohrer nicht gegenseitig ins Oelgehege kommen. Gutes Grenzeinvernehmen, aber nur kapitalistisch.

 

Die Oelfelder und auch Wielen gehören zur Niedergrafschaft, die wie eine Faust in niederländisches Gebiet ragt. Diese "Bentheimer Faust" will Den Haag abhauen. Dicht nördlich der Kreisstadt Nordhorn, am Flüchtlingskloster Frenswegen soll die Grenze laufen. Und an der Vechte-Brücke soll ein Schlagbaum stehen. Wünscht Holland.

 

Das war immer deutsches Gebiet. Die Bevölkerung, die mit Fietsen, hochgestelligen Fahrrädern holländischer Abkunft, zwischen Hecken, Weiden, Moor auf schlechten Straßen durch sporadische Dörfer radelt, möchte deutsch bleiben.

 

Von den Untertanen des Hauses Oranien wird keine Köderpolitik à la Südschleswig betrieben. Nur die Pastoren der "Cockschen", wie die Alt-Reformierten nach ihrem 1840-Spalter-Prediger de Cock volksmundlich heißen, lehren ihre Gläubigen das Leben als Asketen und die Absage an Deutschland. In Holländisch, was sie unter NS nicht durften.

 

Hinterste Ecke. Die "Nederlandse Verenigung" (Interessenvertretung der Minderheit) unter Führung des Fietsen-Händlers Johann Slaghuis in Nordhorn pocht mit Nachdruck auf ihr moralisches Recht auf Wiedergutmachung. Früher wollten die 3000 Holländer in der Niedergrafschaft nicht "Heim nach Oranien". Jetzt kämpfen sie in der Gruppe "Achterhoek" (hinterste Ecke) dafür.

 

"Die Grenzberichtigung allein kann nicht allen Schaden wettmachen, den Deutschland uns zufügte", sagt Slaghuis bitter, mit Blick auf den Wandspruch "In nood en vreugd Saamhorigheid! (In Not und Freude Zusammenhörigkeit). Man spürt noch Haß gegen die Deutschen, die dem friedlichen Volk 1940 Unglück brachten. Auf deutscher Seite fehle der Takt, "Gutmachung" sei nur ein Lippenbekenntnis.

 

Nicht Vernunft, der Geldbeutel diktiert die Forderungen: 812 Millionen Tonnen Steinkohle in unerschlossenen Feldern, vor allem bei Tüddern. Auf über 9 Milliarden Tonnen linksrheinischer Fett-Steinkohle will holländisches Kapital für 50 Jahre seine Konzessions-Hand legen. Ebenfalls auf Kali-Lager bei Xanten mit 45 Milliarden Tonnen Vorrat.

 

70000 Häuser von Ruhrarbeitern blieben pro Jahr ungedeckt, wenn Holland die Dachziegel-Industrie im Raum Kaldenkirchen-Geilenkirchen erbte.

 

Der Moor-Appetit des holländischen Kapitals will den deutschen Teil des Bourtanger Moors, 50 km lang mit einem Drittel der deutschen Torferzeugung, Weißtorf als Humus, Brenntorf zum Hausbrand. Das abgetorfte Gebiet ist für das enge Deutschland die einzige Landreserve zum Siedeln.

 

Normal ist Rotterdam . Mit traditionell-scheelem Holland-Blick auf Deutschlands Nordsee-Häfen wurde das Ems-Problem gesehen. Der Rheinverkehr dürfe in nicht andere als normale Bahnen gelenkt werden, stand im Memorandum. Normal ist Rotterdam, sagt Rotterdam. Es will den gesamten Schiffsverkehr für die Ruhr kapern. Dazu müssen Ems und Emden abgedrosselt werden.

 

1 cbm Emswasser pro Sekunde liefert Deutschland jetzt vertragsgetreu für das Kanalnetz der Provinzen Groningen und Drenthe. Fast die fünffache Menge möchte Holland. Dann würden die Kähne in der mittleren Ems auf dem Grund schleifen.

 

Für das Dortmunder Becken ist der Verkehr via Emden schneller und billiger als über Rotterdam, Bremen oder Hamburg. 1938 stand es 32:8 für Rotterdam, in Millionen-Tonnen Umschlag gerechnet. Emden, das nasse Tor zum Ruhrgebiet, war nie Konkurrenz. 32 Fuß Tiefgang bei Niedrigwasser und modernste Ladebrücken machten Emden zum drittgrößten deutschen Hafen.

 

Die Stadt war 1945 zu 78 Prozent Schutt. Die Hafenanlagen heil. 1948 löschte und lud die Weltschiffahrt schon wieder mit 4,2 Millionen Tonnen Umschlag.

 

Emden muß sterben, wenn die neue Grenze kommt. Die Ems-Mündung soll völlig holländisch werden. Exklusive Emden. Inklusive Dollart. Wo heute der Dollart 30 km lang silbern glitzert (wenn die Sonne scheint), möchten Juliane-Untertanen auf fettem Marschboden siedeln. Ebenso soll vom Ostufer der Mündung aus ein Gaatje-Land eingepoldert werden, bis zur Mitte des Ems-Wassers.

 

Nach Emden bliebe nur eine schmale Fahrrinne zwischen den Poldern, völlig durch oranisches Gebiet. Emden wäre von der freiwilligen Bagger-Arbeit seines Tor-Hüters abhängig.

 

Von einer Brücke Gaatje-Land-Dollart-Polder munkelt man. Geringe Durchfahrtshöhe könnte dort für 10000-Tonner gen Emden peinlich sein. Die müßten dann in Delfzijl löschen. Dieser holländische Ems-Hafen mit kleinem Verkehr (8 Prozent des Emdener Umschlags) und großen Rosinen würde nutznießen.

 

Sorgen auch für Ostfriesland: in einer so eingeengten Ems-Mündung würde das Wasser bei Ebbe nicht mehr tief genug ablaufen. Folgen: 7 Siele würden ihr Wasser nicht los, Versumpfung der neu meliorierten 110000 ha bei Leer.

 

Kuh-Handel. Auch Borkum soll den Besitzer wechseln. Weil es die Mündung beherrsche. Mussert-Leute würden künftig mit den Borkumer Dünen bestraft, prophezeiten französische Zeitungen.

 

Aber noch hat die Bevölkerung von 161 Orten Hoffnung auf Vernunft der alliierten Deutschland-Richter. Wiedergutmachung müsse selbstverständlich sein, aber nicht so, sagt sie. Ganz Argwöhnische allerdings fürchten einen Kuh-Handel. Sie meinen, die geschäftstüchtigen Niederlande ließen sich den Westpakt bezahlen.

 

Hollands Nationalisten sind für Ost-Eroberung. Die anderen: Die Annexion würde das Verhältnis zu Deutschland für lange Zeit eintrüben. Und Holland ist Deutschlands Gemüsegärtner. Wie leicht könnte der Blumenkohl verfaulen.


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